Ohne Worte

Immer mehr Kinder leiden unter Sprachproblemen

 

Von Stephanie Kowalewski

In Nordrhein-Westfalen ist jedes fünfte Kind zwischen fünf und zehn Jahren in logopädischer Behandlung. Das liegt oft daran, dass in vielen Familien weniger miteinander gesprochen wird: Der Alltag von Kindern wird heute stark durch digitale Medien bestimmt.

Am Anfang klingt es häufig einfach nur niedlich, wenn Kinder Buchstaben in Wörtern vertauschen oder leicht lispeln. Da wird dann aus Pipp Langstrumpf mal schnell Pipp Randschlumpf und aus dem Schmetterling wird der Meckerling. Bis zu einem gewissen Alter ist das alles völlig normal. Doch immer mehr Kinder bleiben zu lange auf diesem Entwicklungsstand stehen und so schnellen die Rezeptzahlen für Logopädie in die Höhe.

Justin ist sechs Jahre alt und ein sogenannter Late-Talker. Der Junge leidet an einer starken Verzögerung seiner Sprachentwicklung, erklärt Logopädin Dorothee Bos-Hoster. Ein Phänomen, dass ihr im Berufsalltag seit einigen Jahren immer häufiger begegnet:

"Es nimmt eindeutig zu. Es fängt eigentlich schon beim Sprachverständnis an. Die können einfach ganz oft gar nicht verstehen, was man von denen will und die sprechen gar nicht in kompletten Sätzen. Also die reihen einfach Wörter aneinander. Oder sie können halt überhaupt nicht äußern, was sie möchten, weil der Wortschatz ganz klein ist."

Ein Trend, den auch die nüchternen Zahlen der Krankenkassen bestätigen. Für Kinder bis zum 15.Lebensjahr wurden allein in Nordrhein-Westfalen im vergangenen Jahr 251.000 Rezepte für Sprachtherapie ausgestellt, sagt Beate Hanak, Sprecherin der Techniker Krankenkasse NRW:

"Das ist vom Trend her gesehen eine Steigerung in den letzten drei Jahren von 26 Prozent. Bundesweit wurden sogar über eine Million Rezepte verschrieben."

In NRW ist jedes fünfte Kind im Alter zwischen fünf und zehn Jahren in sprachtherapeutischer Behandlung. In anderen Bundesländern sieht es ganz ähnlich aus. Das kostet die gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland mehr als 316 Millionen Euro. Jedes Jahr. Tendenz steigend. Das bestätigt auch Ralf Kownatzki, Kinder- und Jugendarzt in Duisburg. Allerdings haben die Sprachstörungen, die durch Krankheiten oder Behinderungen entstehen, nicht zugenommen, sagt er:

"Wir sehen aber in den letzten Jahren, dass die Sprachtherapie sehr oft auch eingesetzt wird, wo eigentlich das familiäre Umfeld, das gesellschaftliche Umfeld der Verursacher dieser Sprachentwicklung ist. Es gibt Eltern, da werden die Kinder halt auch tagsüber vor dem Fernseher geparkt. Und wenn man mit Kindern nicht spricht, dann sprechen Kinder auch nicht gut."

In vielen Familien wird heute deutlich weniger miteinander geredet. Da sind sich Kinderarzt, Logopädin und Krankenkassenvertreterin einig. Der Alltag - auch von kleinen Kindern - wird heute eher durch digitale Medien bestimmt als durch gemeinsames Spielen, Vorlesen und Geschichten erzählen. Aber auch das andere Extrem läßt die Rezepte für Logopädie sprudeln: Eltern, die zu ehrgeizig sind und die fälschlicherweise erwarten, dass Kindergartenkinder bereits fehlerfrei sprechen. Außerdem machten sich auch neue Erkentnisse zur kindlichen Sprachentwicklung bemerkbar, sagt die Logopädin Dorothee Bos-Hoster:

"Also zum Beispiel Kinder, die heute auffällig sind, sind vor 20 Jahren noch gar nicht aufgefallen."

Einigkeit besteht darin, dass es seit einigen Jahren eine gestiegene Sensibilität für die kindliche Sprache gibt. Das ist einerseits sehr erfreulich, meint der Arzt Ralf Kownatzki, bringt aber auch unerwünschte Nebenwirkungen mit sich:

"Wir sehen auch, dass von Seiten der Kindergärten, auch von Seiten der Logopäden, zunehmend Druck gemacht wird, sehr früh mit einer Sprachtherapie zu beginnen, auch in Fällen, die wir eher kritisch sehen."

Wenn Kinder zum Beispiel eine Dyslalie aufweisen, also bestimmte Konsonanten vertauschen, Löwe statt Möve, Grei statt Drei sagen, dann sei das in einem gewissen Rahmen völlig normal und nicht therapiebedürftig.

"Das ist bei einem Kind von drei, vier Jahren ein durchaus normaler Entwicklungsstand. Und wenn man in dieser Situation sagt, ihr Kind muss aber jetzt therapeutisch gefördert werden, dann ist das eine Übertherapie. Sie belastet einmal die Krankeknkassen, sie belastet auch die Interaktion ziwschen Eltern und Kind, die jetzt plötzlich ihr Kind nicht mehr als normal ansehen, sondern als gestört. Das halte ich schon für ein Problem."

Deshalb plädiert der Kinder- und Jugendarzt bei Schwierigkeiten mit der Aussprache bestimmter Buchstaben ebenso wie beim Poltern oder auch Lispeln für eine eher abwartende Haltung. Hier reiche es völlig, meint auch die Logopädin Dorothee Bos-Hoster, wenn eine sprachtherapeutische Behandlung ein Jahr vor der Einschulung in Erwägung gezogen wird. Schneller sollten Eltern und auch Ärzte hingegen reagieren, meint sie, wenn der Wortschatz des Kindes extrem gering ist.

"Das Kind macht viel mit Gestik und Mimik oder wenn die Eltern auch selber das Gefühl haben, das Kind versteht nicht immer alles, das sollte man auf jeden Fall überprüfen lassen. Und das kann man eben auch sehr früh überprüfen, eben schon ab drei Jahren."

Denn fördert man solche Kinder nicht, könnten sich weitere Sprachprobleme entwickeln. So haben Kinder mit einem geringen Wortschatz häufig auch große Schwierigkeiten mit der Grammatik und dem Sprachverständnis. Und solch eine Mischung lasse sich nicht in einem Jahr aufarbeiten. Das merkt auch Justin. Die logopädischen Übungen sind für den Sechsjährigen sichtbar anstrengend, auch wenn sie ihm Spaß machen:

"Die Lehrerinnen hier trainieren mich nur oder bringen mir was bei. Naja, die Hausaufgaben klappen nicht so gut, weil die mal schwere Sachen aussucht und das kann ich nicht, die schweren Sachen."

Doch Justin hat dank der Logopädie und vielem Üben zu Hause enorme Fortschritte gemacht und freut sich jetzt auf die Schule.


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