Kinder haften für ihre Eltern

Pflege im Alter

 

Der Sozialstaat verspricht, für die Versorgung im Alter zu sorgen. Trotzdem wälzt er die Kosten zum Teil auf die Kinder ab. Betroffene und Fachleute finden das ungerecht.

Fünfzehn Jahre lang war Anita Schmitt* ein Pflegefall in einem Kölner Altenheim. Ihre kleine Rente und die staatliche Pflegeversicherung reichten für die Kosten nicht aus. Die Seniorin besaß kein Haus oder dickes Sparbuch, das die Lücke hätte füllen können. Deshalb musste ihre Tochter Julia Schmitt* bis zu 500 Euro im Monat an die gesetzliche Sozialkasse überweisen. In ihrem Fall sind vom Nettogehalt zwar 1.500 Euro offiziell garantierter "Selbstbehalt"; da sie aber mehr verdient, muss sie nach demselben Gesetz den Überschuss bis zur Hälfte abgeben. "Das Geld hätte ich sonst gut für meine eigene Altersvorsorge investieren können, von der Politiker gern sprechen, oder für das Studium meines Sohnes", klagt die Lehrerin. An einen Traumurlaub, wie ihn sich ihre Kollegen gönnen, denkt sie gar nicht. Die Mittvierzigerin bekennt: "Ich habe meinen festen Partner nur deshalb nicht geheiratet, weil der sonst für den Unterhalt der Schwiegermutter mit herangezogen worden wäre."

Die Pflege wurde vor beinahe zwei Jahrzehnten als staatliche Aufgabe anerkannt und durch eine Pflichtversicherung geregelt. "Dass der Staat für die Finanzierung trotzdem auch die Kinder als Privatschuldner heranzieht, halte ich für inkonsequent, widersprüchlich und deshalb für ungerecht", sagt nicht nur Julia Schmitt. Die Mehrheit der Deutschen (51 Prozent) ist laut einer repräsentativen Umfrage des Generationenbarometer aus dem Jahr 2006 dagegen, dass die Kinder die ungedeckten Pflegekosten der Eltern übernehmen. Nur jeder Vierte ist einverstanden. Der Fachanwalt Jörn Hauss schreibt in seinem Standardwerk Elternunterhalt, dass dieses Thema oft Streit in der Familie der Kinder hervorruft und manchmal bis zur Ehescheidung führt.

Verschont bleiben natürlich alle, die etwa als Geringverdiener oder Teilzeitbeschäftigte unter der Freigrenze verdienen – außerdem sämtliche Beamtenkinder. Denn der Staat muss seine Diener laut Grundgesetz auf Lebenszeit "amtsangemessen" versorgen. Praktisch trifft der gesetzliche Regress nur besserverdienende soziale Aufsteiger, deren Eltern selber nichts auf der hohen Kante haben. Das zeigt der Jurist Martin Hillebrecht  in einer von der Körber-Stiftung ausgezeichneten Doktorarbeit über den Eltern- oder fachsprachlich Aszendentenunterhalt. "Wer  beispielsweise in eine Arztfamilie geboren wurde", so Hillebrecht, "muss normalerweise höchstens befürchten, dass von der erhofften Erbschaft wegen der Pflege nichts übrig bleibt".

Erben und helfen

Traditionell wurde der Elternunterhalt in den allermeisten Kulturen mit dem Erbrecht verbunden. Das klassische Beispiel in agrarischen Gesellschaften ist das "Altenteil" bei der Hofübergabe an die nächste Generation. Das historisch völlig Neue bei der gesetzlichen Pflege in Deutschland (und sonst kaum noch anderswo) ist, dass die Kinderpflichten vom Erbe des Familienvermögens entkoppelt werden. Die Jungen müssen auch ganz ohne Gegenleistung der Alten für diese aufkommen. Dabei geht es, wie der Experte Hillebrecht präzisiert, nicht einmal um rechtliche oder moralische Ansprüche der Eltern an die Kinder, sondern um die rein fiskalischen Forderungen des Staates an die Nachkommen. Deren Zahlungen fließen in die Staatskasse, nicht an ihre Eltern. Der Autor kennt den feinen Unterschied nicht zuletzt aus seiner Berufspraxis: Er ist selber Mitarbeiter im Bundesfinanzministerium.

Die Poesie vom Gesetz

Vielfach werden juristische Regelungen in der Kommentarliteratur mit moralischen Werten begründet. Die Rechtshistorikerin Marie Theres Fögen sagt: "Das nackte Gesetz wird angekleidet mit süßen Worten wie Menschenwürde, Gottgefälligkeit oder im speziellen Falle mit der aristotelischen 'Dankesschuld' der Kinder, mit familiärer Solidarität oder Generationengerechtigkeit. Fögen nennt das "Poesie", Hillebrecht spricht prosaischer von "normativen Grundlagen". Den verführerischen Zweck solcher Beschwörungen sehen beide Autoren darin, möglichst jedermann von der konkreten Verordnung zu überzeugen, beziehungsweise ein schlechtes Gewissen zu wecken. Hillebrecht stellt ein ganzes Panoptikum solcher Begründungen zum Elternunterhalt zur Diskussion, Bibelsprüche und Koransuren, juristische und philosophische Kommentare vom Altertum bis heute.

Dabei zeige sich aber klar, dass traditionelle Begründungen auf die moderne Familie meist nicht mehr passen. Vielmehr stellt die Sozialforschung fest, dass der Familienverband von heute sich vielfach auflöst, wenn die Kinder selbstständig werden. Es bleibt, wie übrigens schon der Staatsphilosoph Hegel vor fast zweihundert Jahren bemerkte, eine emotionale oder moralische Eltern-Kind-Beziehung. Die aber kann der moderne Rechtsstaat gar nicht verordnen.

* Name geändert

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