Wenn aus Konsum Kult wird: Magische Produkte lassen uns Schlange stehen
Von Erik von Grawert-May
Die Sucht nach begehrten Objekten wie Smartphone und iPad wird verdammt. Dabei hält sie ganze Industriezweige am Leben. Und auf die Dauer erliegt jeder ihrer Magie.
Jeder, der sich eine Bibliothek vorstellt, denkt, es handele sich um einen Ort der Stille. Die Nutzer sitzen ruhig an ihrem Platz. Man hört höchstens das Geräusch von Buchseiten, die umgeblättert werden. Vor Jahrzehnten war das so. Da gab es noch keine Laptops, geschweige denn Smartphones oder iPads.
Die Geräte sind inzwischen so verbreitet, dass bald jeder eins vor sich zu liegen hat. Ihren Gebrauch während der Nutzungszeiten zu verbieten, ist zwecklos. Man stellt sie auf geräuschlos und fertig. Wenn das Gerät rüttelt und jemand anruft, passiert das, was den neuen Zustand von Bibliotheken auszeichnet: Der Nutzer rennt von seinem Platz zum nächstgelegenen Ort, an dem er laut sprechen kann - meistens sind es die Toiletten.
Nicht nur das stille Örtchen war einmal. Auch die ruhige Bibliothek gehört der Vergangenheit an. Alles in allem zählt sie sicher noch zu den lärmlosesten Lokalitäten, aber das periodisch einsetzende Rennen ist absolut störend. Sich darüber aufzuregen, ist jedoch genauso zwecklos, da man im nächsten Moment selber zum Opfer seines smarten Alleskönners wird. Er verführt fast jeden zur Dauernutzung.
Wirkungsvoller wäre es, an der Technik der Geräte so zu feilen, dass sie das Rennen unnötig machen. Vielleicht genügte eine eingebaute Verzögerungsfunktion. Neulich, als gerade wieder einer an meinem Platz vorbeirannte, blätterte ich in dem Artikel eines klugen Soziologen. Ich begann jedoch bei dem Satz, die Wirtschaft sei für den Menschen da und nicht umgekehrt, an seiner Klugheit zu zweifeln.
Früher wäre ich über den Satz nicht gestolpert. Aber angesichts der neuen Verhältnisse in der Bibliothek wurde mir klar, dass diese Ansicht unseren gewandelten Lebensverhältnissen nicht mehr entspricht. Die smarten Geräte sind Kultprodukte, nach denen die Leute nicht nur Schlange stehen. Sie schlagen sich ganze Nächte um die Ohren, um in den Genuss der neuesten Version zu kommen.
Von magischen Objekten ist die Rede, von einer Magie, der auf Dauer jeder erliegt. Die Produkte sind so gut gemacht, dass man ihnen entgegenfiebert. Zwar sind sie für uns da, doch gleichzeitig sind wir für sie da. Es ist wie eine Sucht. Die andauernde Krise hat neues Interesse an einer Kritik des Kapitalismus geweckt. Doch die wirkt altbacken.
Wenn sie sich mit einer Konsumkritik verbindet, die sich durch Warnungen vor zu viel Wachstum zu adeln sucht, wirkt sie sauertöpfisch. Der Kult um die magischen Objekte wird verdammt. Dabei hält er ganze Industriezweige am Leben. Natürlich haben viele schon von allem reichlich und brauchten eigentlich nichts mehr. Trotzdem gieren sie nach den neuesten Novitäten. Diese Gier zu unterbinden, wäre für das Wirtschaftssystem tödlich.
Der moderne Kapitalismus krankt nicht am Konsum, er krankt, alle wissen es, an einem unverantwortlichen Finanzsektor, dem die Figur des ehrbaren Kaufmanns abhanden gekommen ist. Ohne die Rückeroberung dieser Figur stürzt das Ganze früher oder später ins Chaos.
Doch bis dahin bleibt der Kult der Konsumenten eine Säule des Systems. Die Gefahren, die das Wachstum mit sich bringt, sind durch technische Innovationen zu bannen. Irgendwann wird man dann auch wieder ruhig in einer Bibliothek sitzen können, so ruhig, als wäre es ein weltliches Kloster.
Erik von Grawert-May, Publizist und Unternehmer, lebt in Berlin. Letzte Buchveröffentlichungen "Die Hi-Society" (2010), "Roma Amor - Preussens Arkadien" (2011).