Warum ich keine Hure mehr bin: Die Dänin Tanja Rahm spricht im "Welt"-Interview über ihre Gewalterfahrung in der Jugend, das schlechte Gewissen ihrer Ex-Kunden und Exit-Programme für Prostituierte.Von Per Hinrich
"Lieber Sex-Käufer, falls Du glaubst,dass ich jemals Lust auf Dich hatte, liegst Du schrecklich falsch. Nicht ein einziges Mal bin ich mit Lust zu meinem Job gegangen. Das Einzige, was mich beschäftigt hat, war, schnelles Geld zu verdienen" - so beginnt der offene Brief der ehemaligen dänischen Prostituierten Tanja Rahm, der zunächst in der norwegischen ZeitungRahm, die mittlerweile in der Nähe von Kopenhagen als Autorin und Therapeutin arbeitet, ist für ihre Aussagen gelobt, aber auch viel kritisiert worden. Seitdem hat sie auf ihrem Bog im norwegischen Fernsehen und in zahlreichen Interviews Stellung genommen. Auch "Die Welt" hat bei ihr nachgefragt.
Die Welt: Sie haben während ihrer Arbeit als Prostituierte viele erniedrigende Erfahrungen mit Männern gemacht. Warum haben Sie sich denn entschieden, ausgerechnet diesen Job zu machen?
Tanja Rahm: Ich weiß gar nicht, ob es überhaupt eine freie Entscheidung war. Ich bin in einer sehr dysfunktionalen Familie mit Alkohol und Gewalt aufgewachsen. Als ich elf Jahre alt war, hat ein pädophiler Mann mich missbraucht und mir einen Zungenkuss gegeben. Mit 17 Jahren bin ich von verschiedenen Pädophilen mehrfach sexuell missbraucht worden. Mit 13 Jahren habe ich ein Gedicht geschrieben, wie es ist, eine Prostituierte zu sein. Ich glaube nicht, dass irgendein 13-jähriges Mädchen davon träumt, eine Prostituierte zu werden. Ich glaube, dass mein geringes Selbstwertgefühl, das Gefühl, nicht geliebt zu werden und mein Hunger nach Beachtung mich dorthin führte. Ich habe ja gar nicht geglaubt, dass eine Ausbildung oder ein Studium überhaupt für mich infrage kommt. Ich traute niemanden und hatte Angst verletzt zu werden. Als ich mich prostituierte, dachte ich, dass ich zu nichts anderem zu gebrauchen bin, dass ich nichts wert bin. Ich entschied mich nicht zwischen verschiedenen Jobs, es ging nicht darum, eine Krankenschwester oder eine Lehrerin oder eine Prostituierte zu werden. Ich dachte, dass ich nur dazu gut bin, meine Sexualität wegzugeben. Das haben mir die Männer beigebracht, die mich sexuell missbraucht haben. So habe ich beschlossen, dass ich es genauso gut für Geld machen kann, damit ich sehen kann, was ich wert bin.
Die Welt: Sie versuchten also, Ihr Selbstwertgefühl durch den Verkauf ihres Körpers zu steigern?
Rahm: Ich bemerkte natürlich, dass Männer mich attraktiv fanden. Das sagten auch viele. Aber niemand sagte, dass ich gut schreiben oder zeichnen könne, alles in meinem Umfeld fokussierte sich auf meine Sexualität und mein Aussehen.
Die Welt: Ist dieser persönliche Hintergrund denn übertragbar auf andere Prostituierte?
Rahm: Ja. Ich habe mit vielen Prostituierten gesprochen, und etwa acht von zehn haben ähnliche Gewalt- und Missbrauchserfahrungen gemacht. Wenn ein Mann heute Sex kauft, muss er wissen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit an eine Frau gerät, die Schreckliches durchgemacht hat und sich aus den falschen Gründen verkauft – weil sie nämlich etwas wert sein will. Doch erst später merken diese Frauen, dass es dadurch noch schlimmer wird und sie jedes Selbstwertgefühl verlieren.
Die Welt: Und doch schreiben viele Kommentatoren in Skandinavien und in Deutschland, dass sie naiv waren, als sie in den Job gingen. Solche Erfahrungen machen Prostituierte eben, heißt es oft. Waren Sie tatsächlich zu blauäugig?
Rahm: Jeder ist herzlich eingeladen, mich naiv zu nennen. Ich war mit Anfang 20 emotional zerstört, ich hatte verinnerlicht, dass allein meine Sexualität etwas wert ist. Ich glaube, ich wollte damals die Kontrolle über mich gewinnen. Das war in der Tat naiv, denn als Prostituierte hast Du überhaupt keine Kontrolle, Du weißt ja nie, wer der nächste Kunde ist, was er will und wie er Dich behandelt. Es ist eine sehr heikle Situation. Als ein Kunde mich einmal strangulierte, hatte ich überhaupt keine Kontrolle mehr und das war genau das, was er auch wollte: Mein Leben sollte in seinen Händen sein.
Die Welt: Aber Sie haben gut verdient
Rahm: Es ging mir nie um das Geld. Es war nicht das Geld, das mich zur Prostituierten gemacht hat. Wenn ich diese drei Jahre rückgängig machen und meinen Selbstrespekt wieder herstellen könnte, würde ich dafür jede Dänische Krone, die ich in dem Job verdient habe, zurückzahlen.
Die Welt: Sind Sie denn je zum Sex gezwungen worden, etwa durch einen Zuhälter?
Rahm: Ich bin nie durch eine dritte Person zum Sex mit Kunden gezwungen worden. Aber niemand hilft Dir, aus diesem Milieu herauszukommen. Niemand hilft Dir, wenn Du sagst, was du machst. Im Gegenteil, alle um Dich herum wollen Dich in der Prostitution halten. Keine der Angriffe, die ich während meiner Arbeit erleiden musste, wurden angezeigt. Niemand sagte mir, dass ich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen könnte. Ich habe immer nur gehört: Trink einen Tee und dann empfange den nächsten Kunden. Denn auch die Empfangsdame und die Rezeptionistin waren an meinen Einnahmen beteiligt. Wenn ich nicht gearbeitet habe, haben Sie auch weniger verdient.
Die Welt: Haben Sie Gewalterfahrungen mit Kunden gemacht?
Rahm: Häufig, ja. Einmal hat ein Kunde versucht, das Zimmer anzuzünden, als ich noch drin war. Ich kam nicht mehr heraus und als die Polizei kam, rief mich die Bordell-Chefin an und schrie so laut, dass es die Beamten hören konnten: Du musst sofort zurückkommen! Sie hat sich nicht darum gekümmert, dass ich fast gestorben wäre. Ich wurde auch von einem Mann vergewaltigt, der mich für eine Stunde festgehalten hat. Pornos liefen im Hintergrund, während er meinen Kopf ins Kissen drückte. Ich wurde von Kunden gestalkt; Taxifahrer, die mich von der Arbeit nach Hause fuhren, forderten mich zum Sex auf, weil sie mich nicht respektierten.
Die Welt: Sie haben geschrieben, dass viele Psychopathen unter den Kunden waren. Was haben die gemacht?
Rahm: Sie alle eint, dass sie mich nie als Menschen wahr genommen haben, sondern als Prostituierte, als Ware, mit der sie 20 Minuten oder eine halbe Stunden machen konnten, was sie wollten. Viele Kunden depersonalisieren Prostituierte, es ist für sie eine lebende Puppe. Das schreiben auch viele Kommentatoren: Ja, was denkst Du denn, Du bist eine Hure. Das ist grausam und unmenschlich.
Die Welt: Prostitution gilt als das älteste Gewerbe der Welt. Macht denn ein Verbot überhaupt Sinn, wenn die Nachfrage so hoch ist?
Rahm: Das älteste Gewerbe der Welt ist immer noch die Landwirtschaft. Frauen haben den Beruf der Prostituierten ergriffen, weil ihnen häufig nichts anderes übrig blieb. Sie hatten kein Recht zu wählen, keinen Zugang zu Bildung oder gewöhnlichen Arbeitsplätzen. Daher haben sie das gemacht. Heute, im Jahr 2014, haben wir Zugang zu Bildung, Arbeit und Karrieren. Es gibt einen enormen gesellschaftlichen Fortschritt, der ausgerechnet für Prostituierte nicht gelten soll. Das große Geld wird zudem von Männern verdient: Den Zuhältern und den Menschenhändlern, die Frauen aus Osteuropa zu uns bringen. Es ist eine große Industrie, eine Geldmaschine, die den allergeringsten Teil des Profits an die Prostituierten weitergibt.
Die Welt: Was also sollte man tun?
Rahm: Mein großer Wunsch ist, dass Europa zusammensteht und gemeinsam gegen Prostitution vorgeht und sie verbietet. Es wäre auch ein Signal an den Rest der Welt, dass wir keine Sklaverei, keine Gewalt und Sex für Geld tolerieren. Wir brauchen zudem Exit-Programme für Prostituierte
Die Welt: In Dänemark ist Prostitution verboten. Trotzdem gibt es auch dort käuflichen Sex.
Rahm: Das stimmt. Und es ist nicht hinnehmbar. Ich habe neulich eine Seite im Internet durchgelesen, auf der Sex-Käufer die Prostituierten bewerten. Da wird einem schlecht. Denen ist es egal, ob die Frauen ins Bordell verschleppt wurden oder was für einen Hintergrund sie haben. Ein Kunde berichtet, dass er mit dem Aussehen einer Frau unzufrieden war, darum habe er sie umgedreht und brutal genommen. Wir müssen soziale Verantwortung übernehmen und Prostitution als das erkennen, was es ist: Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Freier müssen bestraft werden, nicht Frauen, die sich meistens aus Verzweiflung verkaufen. Sklaverei gibt es auch noch in der Welt, aber sie ist selbstverständlich verboten.
Die Welt: Ist Prostitution denn mit Sklaverei vergleichbar?
Rahm: Es ist dasselbe. Jemand beutet einen anderen Menschen aus, egal, ob nun Geld fließt oder nicht. Es ist eine Form von Sklaverei. Nur geht es hier nicht um die Hautfarbe, sondern um das Geschlecht.
Die Welt: Warum haben Sie drei lange Jahre in dem Beruf gearbeitet, der Sie so fertig gemacht hat?
Rahm: Weil ich nicht herausgekommen bin, ich wollte viel früher gehen. Ich hatte Depressionen, Ängste und viele Probleme. Das letzte Jahr habe ich nur mit regelmäßigem Kokain-Konsum durchgehalten, anders ging es gar nicht mehr. Viele Kolleginnen nahmen ebenfalls Drogen oder tranken Alkohol. Ich war viel verletzter als vor dem Job, ich traute mir den Absprung nicht zu. Und jeder Mann, der Sex kaufte, bestätigte mein negatives Bild von Männern.
Die Welt: Ein häufig gehörtes Argument Ihrer Kritiker ist: Sie schieben ihre Verantwortung für sich auf die Kunden ab, Sie sollten diese lieber für Ihre Entscheidungen und Ihr Leben übernehmen. Was sagen Sie dazu?
Rahm: Ich weiß, dass es für viele schwierig ist, das Problem Prostitution zu verstehen. Es wäre natürlich ganz einfach, wenn man sagen würde, dass jeder für seine Sachen selbst verantwortlich ist. Aber man muss ja kein Psychologe sein, um zu sehen, dass sexueller Missbrauch zu Prostitution führen kann. Das haben wir alle auch unzählige Male gehört. Darum kann ich auch nicht verstehen, dass viele Männer mit ihren Attacken die Wahlfreiheit betonen. Ich fühlte damals, dass ich keine anderen Optionen hatte. Männer zerstörten meine aufblühende Sexualität, missbrauchten sie, ruinierten sie. Wie soll ich denn da in der Lage gewesen sein, gute Entscheidungen zu fällen? Ich denke, dass das Argument der Wahlfreiheit angeführt wird, um das schlechte Gewissen von Sex-Käufern zu erleichtern. Denn würden sie anerkennen, dass es Missbrauchserfahrungen sind, die viele Frauen ins Bordell treiben, könnten sie es kaum noch rechtfertigen. Und in Ländern, wo Prostitution sozial akzeptiert und legal ist, erstickt eine Debatte schnell wieder.
Die Welt: Jetzt entflammt die Debatte wieder.
Rahm: Ja, der Brief erschien in Skandinavien, Island und Deutschlandund wird jetzt auch in Großbritannien, den USA, Spanien und Frankreich publiziert. Es ändert sich etwas. Ich will die Menschen aufrütteln.
Die Welt: Viele Sex-Käufer und Prostituierte behaupten, dass es den Frauen Spaß mache. Ist das ein Selbstbetrug oder kann es die so genannte "happy hooker" tatsächlich geben?
Die Welt: Ich kann natürlich nichtsagen, was solche Prostituierten fühlen oder nicht fühlen. Aber aus meinen Erfahrungen weiß ich, dass viele aktive Prostituierte nicht wissen, worauf sie sich einlassen und erst nach dem Ausstieg merken, was das mit ihnen getan hat. Du verkaufst nicht nur eine Sache. Jedes Mal, wenn Du einen Kunden empfängst, verkaufst Du einen Teil von Dir selbst. Es frisst Dich auf. Ich glaube nicht, dass es glückliche Huren gibt. Wenn der Job leicht gewesen wäre, warum habe ich dann wohl aufgehört?